Josef Kiening:  Meine Jugendjahre
    
    
    Geboren wurde ich am 30.August 1941 um 10 Uhr 15 Minuten  in
      der Klinik Dr. Schnitzer in der Kaulbachstraße 59 in
      Schwabing.  Getauft wurde am nächsten Tag in der Klinik, die
      örtlich zuständige Pfarrei war St. Ludwig in der Ludwigstraße.
      Mein Vater war dieser Zeit als Soldat in Russland im Krieg . Für
      ihn wurde ein Bild im Fotoatelier gemacht und mit Feldpost nach
      Russland  geschickt.
     1942
    Um mich zu baden, hatte meine Mutter eine kleine Blechwanne auf
    einen Stuhl gestellt. Das war in der Wohnung neben dem Bäckerladen
    in der Parkstraße im Erdgeschoss. Der Krieg hatte seinen Höhepunkt
    erreicht. Die Väter waren alle im Krieg. Die Mütter mussten alleine
    zurecht kommen.Immer, wenn einer der Männer Heimaturlaub hatte, traf
    sich die Verwandtschaft und es wurde fotografiert.Im September 1942
    war Vaters erster Heimaturlaub aus Russland.  Vater sieht mich
    zum ersten Mal.Die Großmutter aus Freising  hatte uns 1942
    zuletzt gesehen bei ihrem Besuch in München. Es gibt  Fotos im
    Ausstellungspark im Westend. 
    Vater kaufte  bei der Heimfahrt aus Rußland in Prag das
    Schaukelpferd. Es wurde mein Weihnachtsgeschenk 1942.
    
    1943 Umzug nach Hattenhofen 
    Als 1943 die Bombenangriffe der Allierten München erreichten, zog
      meine Mutter zu den Großeltern nach Hattenhofen. Die Möbel ließ
      sie in der Wohnung in München.
      Die alten Großeltern hatten eine kleine
      Selbstversorger-Landwirtschaft und konnten eine junge
      Arbeitskraft  gut gebrauchen. Mutters Schwester, Tante Leni
      (Magdalena Buchta), war ebenfalls aus Bayreuth mit ihrer kleinen
      Tochter Irmi ins Elternhaus zurück gekehrt und zum Ende des
      Krieges kam auch Tante Therese Lauchner, nachdem in München alles
      kaputt gebombt war.  Hier gab es außer Pferden alles, was zu
      einem Bauernhof gehörte: Einen Stall mit einem Ochsen, einer Kuh
      und einem Schwein. 
    Außerdem gab es einen Hühnerstall und einen Gemüsegarten, auf den
    die Großmutter besonders stolz war. Der Ochs musste den Wagen und
    den Pflug ziehen. Weitere Maschinen waren nicht vorhanden. In der
    Scheune lagerte Heu und Stroh als Viehfutter. Hinter der
    Schreiner-Werkstätte von Onkel Xaver und Hans Heiß, die aber im
    Kriegsdienst  abwesend waren, war ein Bretterlager mit Dach und
    ein Obstgarten mit verschiedenen Bäumen und einem Gartenhäuschen.
    Als Kleinkind hatte ich den nach Süden offenen und dadurch warmen
    und windgeschützten Hof und Garten als Spielplatz. Das Haus hatte
    ein weit nach Süden überstehendes Dach. Da saß der kranke Großvater
    und  passte auf die Kinder auf, während die Frauen der Arbeit
    in Hof und Feld nachgingen.
    
    Die Kinderkleidung auf den Bildern ist durchwegs selbst gestrickt.
    Im Krieg gab es nichts mehr zu kaufen. Da haben die Mütter alte
    Wollsachen aufgetrennt und etwas neues daraus gestrickt.  So
    wurde die Kinderkleidung dem Wachstum der Kinder angepasst. Den
    Kindern war es egal, sie kannten es nicht anders. Die Cousine Irmi
    ist besser gekleidet. Ihre Mutter war Schneiderin und konnte aus
    alten Resten Kinderkleider nähen.  
    1943 im letzten Kriegsurlaub fotografierte mich mein Vater auf einem
    Dreirad, das er in Italien gekauft hat.
    1943 ging krabbeln noch schneller als laufen. Aber auf dem Dreirad
    ging es schnell.
    
    Der Großvater Franz Xaver Heiß
    
    1943 war der Großvater 73 Jahre alt und litt an Wassersucht. Er
    konnte schon lange die schwere Arbeit nicht mehr leisten. Die
    Großmutter war nur 2 Jahre jünger und versorgte den Stall mit dem
    Ochsen und der Kuh. Als vollwertige Arbeitskraft kam meine Mutter
    gerade recht. Da die Männer alle im Krieg waren, musste sie alle
    Arbeiten verrichten, die eigentlich Männerarbeit waren. So pflügte
    sie mit dem Ochsen den Acker, erntete das Getreide mit der Hand. Die
    Landwirtschaft war nicht groß. Das für die Familie notwendige Essen
    konnte sie gut erzeugen.
    Nur zum Dreschen des Getreides kam die Dreschmaschine der
    Dorfgemeinschaft in den Hof.  Alle anderen Arbeiten wurden mit
    der Hand und dem Ochsen als Zugtier erledigt.  Meine Mutter hat
    auch beim Polz-Bauern (Großbauer in Hattenhofen)  wo ihre
    Schulfreundin Bäuerin war, mit dem Pferd den Acker gepflügt. Im
    Gegenzug werden die Polzen bei unserer Landwirtschaft geholfen oder
    Getreide gegeben haben. 
    
    Nicht nur bei den Lebensmitteln, sondern auch mit Energie war die
    Familie autark. Das Brennholz (Äste) musste aus dem Wald geholt und
    Ofen fertig zerkleinert werden. Damit war die Großfamilie in den
    Notjahren auf keine Einkäufe angewiesen. 
    Der Torfstich
    Der Großvater hatte auch einen Torfstich. Es war wohl Gemeindegrund,
    der von allen Gemeindemitgliedern gemeinsam genützt wurde. Heute ist
    das ganze Gelände eine große  Photovoltaik-Anlage.  Unter
    dem Humus war Torf.   Ich erinnere mich undeutlich. Da war
    ich 2 bis 3 Jahre alt. Es muss vor 1945 gewesen sein, denn ab 1945
    war der Großvater krank und arbeitsunfähig.  Der Großvater
    hat  mit einem rechteckigen Schneidegerät an einer langen
    Stange über einer senkrechten Wand aus Torf stehend  aus einem
    schmalen Wasserloch im Moor längliche rechteckige Torfstücke etwa so
    groß wie Briketts  geschnitten.Das Torfstück blieb in der Form
    hängen, wurde mit der Stange aus dem Wasserloch hervor gehoben. Dann
    hat gegenüber  meine Mutter den Torf aus der Form genommen und
      unter einem Dach daneben über kreuz  zum Trocknen
    aufgerichtet.  Die getrockneten Torfstücke waren unser
    Heizmaterial. Ich musste ruhig daneben sitzen bleiben und zuschauen.
    Wenn ich in das tiefe Wasserloch gefallen wäre, hätten  mich
    die Erwachsenen kaum heraus fischen können. 
    
    So verbrachten wir die Jahre 1943 bis Ende 1946 vor Bombenangriffen
    sicher und ohne zu hungern auf dem Land. In den Nächten hörte man
    die Flieger und sah am östlichen Horizont den Lichtschein der
    brennenden Stadt München.Tante Leni war schon um 1940, als ihr Mann
    in den Krieg musste,  mit Kind und Möbeln zu den Eltern heim
    gekommen und wohnte in der "Austragswohnung" in einem Nebengebäude.
    Als Schneiderin und Näherin war ihre Arbeit im Dorf gefragt und
    wurde mit Lebensmitteln bezahlt. Leni arbeitete deshalb nicht
    regelmäßig in der Landwirtschaft.
    
    Die Tante  Fanni in Oberschweinbach. so klein und zierlich sie
    war, brachte in diesen Jahren das Kunststück fertig, alleine ein
    Haus für ihre Familie zu bauen. Meine Mutter erzählte mir, daß Fanni
    einmal einen Bezugsschein für einige Tonnen Zement bekam, der jedoch
    am Bahnhof Althegnenberg lagerte. Sie kam mit dem Radl nach
    Hattenhofen. Hier spannte meine Mutter den Ochsen vor den Wagen und
    beide fuhren mit dem Fuhrwerk nach Althegnenberg, luden die
    Zementsäcke auf den Wagen, fuhren bergauf bergab nach
    Oberschweinbach, luden den Zement ab und dann fuhr meine Mutter mit
    dem Wagen zurück nach Hattenhofen. Die knapp 20 km waren mit dem
    langsamen Ochsen wohl eine Tag füllende Unternehmung. 
     1944 früheste Erinnerungen an die Kriegsjahre
    
    Am 21. April und am 9. Mai 1944 war laut Impf-Bescheinigung die
    Diphtherie-Impfung beim Wirt Eberl an der Hauptstraße in
    Hattenhofen.  Die Ärztinnen (wahrscheinlich waren es
    Krankenschwestern, denn die Ärzte waren im Kriegseinsatz) impften im
    Nebenzimmer der Wirtschaft. Alle Mütter mit Kleinkindern warteten in
    der vormittäglich leeren Wirtsstube. Da alle Kinder schreiend 
    aus dem Nebenzimmer kamen, schrien und zappelten die Wartenden schon
    vorher. Ich sehe noch die hohe Wandvertäfelung aus Profilbrettern in
    der Wirtsstube vor mir. Die Ärzte mussten gute Nerven haben und
    behandelten die Kinder entsprechend unsanft, so dass diese wirklich
    Grund zum Schreien hatten. Diphtherie-Impfung erfolgte meines
    Wissens mit einer Angst einflößenden  Spritze. Das ist im Alter
    von 2 3/4-Jahren meine früheste Erinnerung an ein konkretes
    Ereignis.
    
    Meine Mutter war in Sorge, was aus der Bäckerei in München geworden
    ist. So lange noch Züge fuhren, ist sie immer wieder einmal nach
    München gefahren, um nach zu schauen und etwas zu holen, zum
    Beispiel Kleidung.  Tatsächlich waren dort einmal, als wir
    ankamen, fremde Leute, "Ausgebombte", die ihre Wohnung verloren
    hatten,  aus der Nachbarschaft einquartiert. Eingeprägt hat
    sich das Bild mit meiner erschrockenen Mutter im Hausgang, während
    die Hausverwalterin beschwichtigend auf beide Parteien eingeredet
    hat. 
    
    Meine Mutter setzte mich bei diesen Besuchen in einen leichten
    Kinderwagen für die Wege zur Bahnstation Haspelmoor bzw. vom
    Hauptbahnhof ins Westend zur Parkstraße. Ich erinnere mich, dass uns
    eine Frau deswegen angesprochen hat, warum ich als so großer
    3-jähriger Bub noch im Wagerl gefahren wurde. Meine Mutter sah das
    realistischer. Mit dem Kinderwagen konnte sie bei Fliegerangriff
    rennen. Mit einem übermüdeten oder quengelnden Kind an der Hand ging
    das nicht. Das hat die andere Frau dann schon verstanden. 
    
    Bei einem dieser München-Besuche noch vor Kriegsende wurden wir vom
    Fliegeralarm überrascht. Da saßen wir mit den übrigen ca. 10
    Hausbewohnern der Parkstraße im Luftschutzkeller, einem etwa 20 qm
    großen Raum, der mit einer massiven Eisentüre zum Kellergang hin
    verschlossen war. Ich weiß noch undeutlich, wie der Raum mit
    Ziegelgewölbe  ausgesehen hat. Wenn ich daran denke, bekomme
    ich Beklemmung,  Platzangst und das Gefühl, keine Luft zu
    bekommen. Bei Alarm wurde der Strom abgeschaltet. Dann war es
    dunkel.  Ich war wohl das einzige Kleinkind in diesem Keller.
    Größere Kinder aus dem Haus waren schon aufs Land geschickt worden.
    Heute frage ich mich, wozu dieser Keller gut war. Wenn das Haus von
    Bomben  getroffen worden wäre, gebrannt hätte oder gar
    eingestürzt wäre, hätten wir diesen Keller nur durch eine Kellerluke
    verlassen können. Vor diesem flachen niedrigen Kellerfenster lag
    normalerweise ein schwerer Betonklotz ca. 100 x 40 x 20 cm, ein
    Luftschutz-Stein. Die Eingeschlossenen hätten erst diesen Beton weg
    wälzen müssen. An die Fassade außen waren große weiße Pfeile zu
    diesem Luftschutzraum-Fenster gemalt. Sie sollen Helfern oder
    Schutzsuchenden den Weg in den Bunker zeigen. 
    
    Ab September 1944 war mein Vater in Kriegsgefangenschaft. Nun musste
    meine Mutter alleine zurecht kommen. Es dauerte wohl bis 1945, bis
    sie wieder Nachricht hatte, dass Vater überhaupt noch lebte.
    
    Auf den Bildern aus den Kriegsjahren fällt mir auf, dass meine
    Mutter. obwohl sie in die Kamera zu lächeln versucht, einen
    ungewohnt harten Gesichtsausdruck hat. Das kam wohl durch den Krieg.
    
    
    29. 4 . 1945 Kriegsende
    
     Meine zweite datierbare  Erinnerung ist das Kriegsende
    1945. Wir waren in Hattenhofen.
    
      In der Nähe des Hauses führt die
      Bundesstraße Augsburg München durch den Ort. Die Amerikaner waren
      bereits in der Nähe des Dorfes. Wir saßen alle im Kartoffelkeller
      unter der Scheune. Das war der einzige Keller des Anwesens. 
      Im Brandfall wären wir aus dem Keller niemals heraus gekommen. Da
      bombardierten amerikanische Flieger das Dorf. Als sich der Lärm
      legte, verließ Mama den Keller, um uns eine Suppe zu kochen. Wir
      hatten große Angst um sie. Als  wir uns auch aus dem Keller
      wagten, war das Metzgeranwesen auf der anderen Straßenseite
      abgebrannt. Ich erinnere mich, wie die Feuerwehr, das waren junge
      Frauen in grünen Uniformen, die rauchenden Trümmer auseinander
      räumten. und die am Boden liegenden Reste löschten.  Frauen
      in Hosen waren damals noch ungewöhnlich, so dass   mir
      kleinem Kind das auf fiel.  Mama hatte ein weißes Bettlaken
      aus dem Fenster gehängt, wahrscheinlich hatten die Nachbarn das
      gleiche getan. 
      
      Man kann den Amerikanern nicht vorwerfen, dass sie so kurz vor
      Kriegsende kein Risiko mehr ein gingen und keine Lust zu
      Kampfhandlungen mehr hatten.  
      
      Meine Tante erzählte mir dazu später, dass Irmi (6) und ich (3,5
      Jahre) neugierig hinter dem Fenster  zur Straße saßen,
      während sich die Frauen versteckt hielten. Da schaute ein ganz
      schwarzer Neger zum Fenster herein. Als er uns Kinder sah, ging er
      gleich weiter. Wir hatten vorher noch nie einen Neger gesehen und
      sind natürlich sehr erschrocken.. 
    
    
    
    Dann rollten die amerikanischen Panzer langsam auf der Bundesstraße
    durch den Ort in Richtung München. Sie rollten pausenlos mehrere
    Tage und Nächte. Bald überwanden wir Kinder die Angst und standen
    staunend am Straßenrand.  Manchmal warf uns ein Soldat
    Schokolade oder Süßigkeiten aus dem Fahrzeug zu. Nach meiner
    kindlichen Erinnerung rollten eine Woche lang Tag und Nacht
    Panzerkolonnen  auf der Bundesstraße durch den Ort, während wir
    die Reste des deutschen Militärs überhaupt nicht bemerkt hatten.
    Sicher waren nur die ersten Fahrzeuge Panzer und der Rest LKWs, aber
    für mich als Kind war da kein Unterschied. Alle hatten die gleiche
    Farbe. Aber die Kolonne war wirklich eine Woche lang.
    Die Silberdächer in Hattenhofen 
    In den letzten Kriegstagen standen alle Bahnhöfe
      voll mit Güterzügen, nachdem die Strecken durch Bombardierung
      unterbrochen waren. Im Bahnhof Haspelmoor standen Güterwägen mit
      eiförmig runden Aluminiumblechen mit etwa 25 cm Durchmesser an der
      längeren Seite. Nach Kriegsende hat die Dorfbevölkerung die Züge
      geplündert und auch die Aluplatten mitgenommen, wahrscheinlich
      weil sie so schön silbrig glänzten. Niemand wusste, was man damit
      anfangen konnte, bis jemand die Idee hatte, die Scheiben wie
      Fischschuppen oder Biberschwanz-Dachplatten auf ein Dach zu
      nageln. Bald waren viele Nebengebäude und Holzlegen in Hattenhofen
      so gedeckt und glänzten silbrig. Noch lange sind mir bei Besuchen
      die Silberdächer aufgefallen. Manche wurden später mit Farbe
      überstrichen
    
     Holzgaser
     
    Es muss bald nach dem Einmarsch der Amerikaner gewesen sein, als
    noch keine Züge verkehrten. Ich erinnere mich, wie mich meine Mutter
    im Morgengrauen die Bundesstraße Richtung Mammendorf entlang zog bis
    zu einem abgelegenen Haus. Dort stiegen wir in einen Holzgaser-LKW,
    der nach München fuhr. Ein Holzgaser war ein Lastwagen, der auf der
    Ladefläche einen umgebauten Badeofen hatte, in dem Feuer brannte. Im
    Wasserbehälter war kein Wasser, sondern geeignete Holzscheite, die
    durch die Hitze vergast wurden. Mit dem Gas lief der
    Dieselmotor.  Der Fahrer musste immer nachheizen, wenn der
    Motor stehen blieb. Mit dem LKW kamen wir am gleichen Tag wieder
    nach Hattenhofen zurück.  Meine Mutter hätte mich auch bei den
    Großeltern und Tanten lassen können, aber da hätte ich
    wahrscheinlich ein Geschrei angestimmt.  Außerdem war ein
    Kleinkind paradoxerweise ein Schutz für die Frauen vor Belästigung.
    
    
    Bei diesen Kontroll-Besuchen ging meine Mutter mit mir jedes mal
    ganz heimlich in den Bäckerei-Keller. Da stand in einem stumpfen
    finsteren  Gangende unter Gerümpel getarnt ein 5-Liter
    Blecheimer mit Zuckerguss, "Fondant-Masse" genannt. Davon bekam ich
    bei jedem Besuch einen Löffel voll zu schlecken. 
    
    Mit dem Rad fuhr meine Mutter im Mai oder Juni 1945, als es noch
    keine Post gab, mit mir im Kindersitz von Hattenhofen nach Freising
    zur anderen Großmutter, um dieser mitzuteilen, dass wir den Krieg
    überlebt hatten.
    
    Meine Cousine Irmi war 3 Jahre älter als ich und mit ihrer Mutter,
    Tante Leni,  in Hattenhofen evakuiert. 1944 besuchte sie schon
    die Schule. Was sie lernte, brachte sie mir anschließend bei, denn
    ich war ihr Spielgefährte und musste beim Schule spielen immer die
    Schülerrolle übernehmen. Tante Leni war Schneiderin und war die
    einzige der Erwachsenen, die nicht auf dem Feld, sondern im Haus
    arbeitete. Sie hat tagsüber auf die Kinder aufgepasst, ihre Tochter
    Irmi und  mich.  Wir hatten in den Kriegsjahren fast kein
    Spielzeug und keine Anregung von außen,  und spielten
    zwangsläufig mit den Sachen, die wir vor fanden. Fernsehen und
    Bücher gab es nicht. Schule war sehr interessant zu spielen, da es
    nichts anderes gab.
     So konnte ich beim Schulanfang bereits lesen, aber nach
    Dorfschulart. Meine Lehrerin in München beanstandete immer mein
    Buchstabieren: ich sagte A, Bee, Cee, Dee usw. Wir sollten aber die
    Konsonanten allein sprechen, ohne die Vokale dazu. 
    1946 zog meine Mutter mit mir wieder nach München, um ihren Anspruch
    auf die Wohnung zu verteidigen.
    1946 Ringsum Ruinen
    So sauber und in gutem Zustand wie heute  waren die Häuser im
    Westend  1946 nicht. Schon im September 1942 wurde die nächste
    Straßenecke Parkstraße - Tulbeckstraße von Bomben getroffen. 1946
    stand an dieser Stelle nichts mehr. Bis um 1950 waren die
    Schutthaufen weg geräumt. Als die Häuser in den 1950-er Jahren
    wieder aufgebaut wurden, wohnten wir schon nicht mehr im Westend.
    Es war große Wohnungsnot. In jedes freie Zimmer wurden "Ausgebombte"
    oder Flüchtlinge einquartiert. Von der Bäckerei und der dazu
    gehörenden Wohnung im 1. Stock konnte meine Mutter nur ein Zimmer im
    ersten Stock behalten.  Die Bäckerei war  bis 1949 unter
    verpachtet an eine Familie, die nach meiner Erinnerung Hornung hieß.
    Wir behielten die zwei zur Bäckerei gehörenden Zimmer im 1. Stock.
    Das war nur eine Teilwohnung. In zwei weiteren Zimmern wohnte eine
    alte Familie Gradl. Eine Wasserstelle für alle gab es nur im Gang
    und das Klo war im Treppenhaus. Meine Mutter hatte als Schlafzimmer
    mit mir eines der zwei Zimmer, das nur durch das andere, eine
    Wohnküche, zu erreichen war. In der Wohnküche waren noch zwei Männer
    einquartiert. Die waren tagsüber, wenn wir dort wohnten, in der
    Arbeit. Das Schlafzimmer war ja nicht heizbar. Der ältere Mann hieß
    Thoma und hängt irgendwie mit der Familie Thoma zusammen, bei der
    meine Mutter 1941 als Hausmädchen arbeitete. Siehe dazu den Bericht
    meiner Mutter. Ich glaube, Thoma hatte seine ganze Familie und die
    Wohnung bei einem Fliegerangriff verloren. Ich habe versäumt, meine
    Mutter danach zu fragen.  Er war jedenfalls alleinstehend und
    als in der Nachbarwohnung ein Fräulein Scheckenhofer einquartiert
    wurde, hat Thoma zur Verblüffung der Hausleute überraschend das
    Fräulein Scheckenhofer geheiratet. 
    Der zweite Zimmerherr war ein junger Mann namens Wagner. Er war aus
    Schlesien und als Soldat in München gestrandet. Seite Eltern fand er
    über das Rote Kreuz erst nach einigen Jahren wieder. Diese kamen
    dann als Flüchtlinge nach München. Bis dahin hat er als Gehilfe in
    der Werkstätte von Thoma gearbeitet.  Wir sahen ihn später
    öfters als Zeitungsverkäufer am Hauptbahnhof und ich erinnere mich
    an einen Besuch bei den Eltern Wagner, nachdem diese in München eine
    Wohnung bekamen. Das war schon nach 1949..
    Kino
    
    Als 1946 das Kino an der nächsten Ecke wieder öffnete, wurde
      meine Mutter von ihren einquartierten Zimmerherren in das Kino
      eingeladen. Ich wurde mit genommen. Wer hätte sonst auf mich
      aufgepasst. Dass der Film ("Der Tiger von Eschnapur") Jugendverbot
      hatte, störte wohl niemand, denn ich war ja noch ganz klein. Die
      Handlung habe ich nicht mitgekriegt, aber an eine Szene erinnere
      ich mich noch: Ein Mann schwamm flüchtend im Wasser und einige
      Krokodile verfolgten ihn. Davon träumte ich jahrelang. Meine
      Abneigung gegen Kinofilme kann auf dieses Erlebnis zurück gehen.
      Das Kino spielte damals eine viel wichtigere Rolle als heute, denn
      Fernsehen gab es noch nicht.
      
      Ich war etwa 5 Jahre alt (1946), als ich eine Straßenbahn
      abbremste. Im Anhänger (Beiwagen) der Straßenbahn gab es an der
      Wand der Plattform ein halbmeter großes Rad. Das war die
      Handbremse, wenn der Wagen abgestellt wurde. An Bergstrecken, wie
      am Nockherberg, musste sich der Schaffner an die Handbremse
      stellen, um notfalls den Wagen abzubremsen. Als ich mit meiner
      Mutter in die Straßenbahn gestiegen war, sah ich das Rad und rief:
      "Ui, ein Radl !"  Schon war ich dort und habe gedreht. Da hat
      es gerumpelt und der Straßenbahnzug ist gestanden. Der Schaffner
      konnte mir nicht so schnell nachlaufen. Er hat  die Bremse
      wieder aufgedreht,  dann zweimal an seinem Glockenseil
      gezogen. Da hat beim Fahrer im ersten Wagen die Glocke gebimmelt
      und die Tram konnte weiter fahren. .Die Handbremsen hatten schon
      eine Sperrgabel, aber diese war offensichtlich nicht eingehängt.
    
    1946 Spielzeug 
    Einer der Zimmerherren namens Thoma hatte eine Schreinerei, die auf
    die Herstellung von hölzernen Hutformen spezialisiert war. Als ich
    mit meiner Mutter einmal in die Werkstätte kam, nahm Thoma einen
    etwa 10 cm großen Holzwürfel und zerschnitt ihn mit der Bandsäge,
    wobei er ihn ständig drehte. Dann schenkte er ihn mir. Der
    zerschnittene Würfel fiel nicht auseinander, konnte aber wie ein
    Puzzle zerlegt und zusammengesetzt werden. Thoma zeigte mir, wie es
    ging. Ich brachte den Würfel aber nicht alleine zusammen. Als ich
    später Gewalt anwendete und Teile zerbrach, war Thoma enttäuscht. 
    
    Einmal war ich nach dem Krieg mit meiner Mutter in einem größeren
    Raum, in einer Ruine  Ecke Tulbeck - Parkstraße. Mehrere Frauen
    sortierten Lumpen in große Säcke. Plötzlich kam eine
    Kasperl-Handpuppe unter den Lumpen zum Vorschein. Eine der Frauen
    meinte: "Schenkt den Kasperl doch dem Kind".  So bekam ich mein
    erstes und, soweit ich mich erinnere, einziges puppenähnliches
    Spielzeug. Der Kasperl hatte eine grüne Filzjoppe. Der Kopf war,
    glaube ich, nicht aus Holz, sondern aus einem weicheren Material. Am
    Ende der langen Zipfelmütze hatte er ein Glöckchen. Mit dem Kasperl
    unterhielt ich vom Parterre-Fenster aus die vorbei gehenden Leute.
    
    Fortsetzung Jahre
      1947 bis 1955
    
    (C)  Josef Kiening München 2024